Magische Geschichten

Mit dem Titel „Die Stimme aus dem Koffer – Jakobs magische Geschichten“ habe ich ein neues Kinderbuch in der Schublade, das ich im nächsten Jahr als Buch herausbringen möchte.

Neben Geschichten, die sich in den letzten Jahren angesammelt haben, sind in den vergangenen Monaten einige neue hinzugekommen. Ermöglicht wurde mir die intensive Arbeit an dem Manuskript durch ein Stipendium des Landes NRW zum Ausgleich von Nachteilen im Zusammenhang mit dem Coronavirus.

Typisch für alle 12 magischen Geschichten: Was zunächst wie ein normales Alltagserlebnis beginnt, erweist sich schnell als fantastisches Abenteuer. So landet ein Ballon aus einem defekten Fernseher neben dem Haus und lädt Jakob zu einer echten Ballonfahrt ein. In „Jakob und Emma allein zu Haus“ kommt es zu einem Überfall der Kuscheltiere. Von einer ungewöhnlichen Kuh handelt die (hier gekürzte Version) der folgenden Geschichte, die einen Vorgeschmack auf das Buch gibt.

Eine Schneekuh

Wenn Jakob mit seinen Eltern zu Oma, Onkel Josef und Tante Lise aufs Land fuhr, zählte er unterwegs die Kühe auf den Wiesen, an denen sie vorbeirauschten. Er drückte seine Nase gegen die Scheibe, die vom Atmen beschlug. Nur noch unscharf konnte er die Häuser, Bäume und Tiere erkennen. Alles flog geschwind vorüber, als ob er im Kino säße und einen Film schaute oder träumte. Die Kühe, von denen es auf den Wiesen nur so wimmelte, hatten braun-weiß geflecktes Fell. Während der Autofahrt huschten sie vorüber wie milchige Schatten.

Die Oma wusste viele Geschichten über Kühe zu erzählen. Eigentlich war Oma Jakobs Urgroßmutter. Aber weil ihre Tochter, also Jakobs Großmutter, früh gestorben war, wurde die Urgroßmutter von allen nur Oma genannt. Mit ihren siebenundneunzig Jahren brauchte sie nicht mehr auf dem Hof mithelfen und Kühe melken. Trotzdem wusste sie über jede Kuh genau Bescheid.

Jakob wischte mit dem Ärmel über die vom Anhauchen beschlagene Autoscheibe und sah, wie sie einen Fluss überquerten. Anschließend bogen sie in einen Landweg ein und fuhren ein paar Hundert Meter über Schlaglöcher und Pfützen, sodass es im Auto wackelte und klapperte wie auf einem alten Kutschwagen mit galoppierenden Pferden davor.

Endlich hatten sie den Bauernhof erreicht. Hinter dem Haus grasten die Kühe. Oma, Onkel Josef und Tante Lise saßen in der Kü­che und machten Kaffeepause. „Wie geht‘s euch denn?“, fragte Onkel Josef und stellte Vater und Mutter eine Tasse Kaffee und Jakob ein Glas Kakao hin.

Die Erwachsenen unterhielten sich über das Wetter, ein Thema, für das Jakob sich nicht besonders interessierte. Er hatte sich schon neben Oma gesetzt und wartet förmlich darauf, dass die anderen für eine Weile verschwanden. Schließlich standen sie auf und gingen hinaus.

„Warum habt ihr eigentlich nur zehn Kühe?“, fragte Jakob. „Andere Bauern haben viel mehr.“ Oma nahm ihre Brille ab und blickte zum Fenster hinaus und betrachtete die Kühe auf der Wiese.

„Bist du dir sicher?“, fragte Oma.
Jakob zählte: „Eins, zwei, drei …“ Er kam auf zehn.
Oma schüttelte den Kopf und lächelte: „Stimmt nicht, es sind elf.“
Oma schüttelte den Kopf und lächelte: „Stimmt nicht, es sind elf.“
„Du kannst sagen, was du willst, es sind zehn“, erwiderte Jakob.

Oma setzte ihre Brille wieder auf. „Meine schönste Kuh“, sagte sie, „die kannst du nicht sehen, denn es ist eine Schneekuh.“
Jakob schaute zur Wiese hinüber. Er hatte von Schneehasen und Schneehühnern gehört, aber Schnee­kühe kannte er noch nicht. Und er zweifelte, ob es sie wirklich gab.

Oma blieb dabei und sagte: „Die meisten Menschen können die Schneekuh nicht sehen, denn sie tarnt sich. Sie ist in der Lage, die Farbe ihres Fells zu wechseln und sich der jeweiligen Umgebung anpassen. Steht sie zum Beispiel vor dem Haus, verändert sie ihr Fell in die Farbe der Backsteine, also rot. Und wenn sie auf einer grünen Wiese grast, so wie jetzt gerade, dann wird ihr Fell grün.“

Jakob stand auf, trat ans Fenster und blickte angestrengt hinaus. Er konnte die Schneekuh beim besten Willen nicht entdecken. „Und warum siehst du die Schneekuh und ich nicht?“, wollte er wissen.
„Die Schneekuh verändert nicht nur die Farbe ihres Fells“, erklärte Oma, „sondern sie bringt es zum Leuchten, was man allerdings im Tageslicht nicht erkennt. Es ist wie bei den Sternen, die man nur am Nachthimmel beobachten kann.“

Jakob schüttelte ungläubig den Kopf.
„Siehst du jetzt die Sterne?“, fragte Oma.
Da es draußen noch hell war, konnte Jakob nicht einen einzigen Stern erkennen. Nur wenn es dunkel war, flackerten sie am Nachthimmel.
Da es draußen noch hell war, konnte Jakob nicht einen einzigen Stern erkennen. Nur wenn es dunkel war, flackerten sie am Nachthimmel.

„Du kannst die Sterne tagsüber nicht beobachten, ob­wohl sie da sind“, meinte Oma. Jakob nickte. „Es liegt daran, dass sie nicht so hell leuchten wie der sonnenbeschienene Himmel und daher für deine Augen unsichtbar sind.“
Sie nahm erneut ihre Brille ab und rieb sich mit den Händen durchs Gesicht. „Leider ist mein Augenlicht sehr schwach gewor­den“, bemerkte sie. „All die Dinge, die für dich selbstverständlich sind, existieren für mich kaum noch. Für mich sieht es jetzt fast so aus, als ob es draußen bereits dunkel wäre, obwohl die Sonne scheint und es taghell ist. Nur die funkelnde Schneekuh kann ich erkennen.“

Jakob setzte sich wieder hin. „Schade, dass ich sie nicht sehen kann“, sagte er.
„Aber dafür hast du viele andere Dinge, von denen ich nichts mehr mitbekomme“, sagte Oma. Jakob merkte, dass sie darüber traurig war. „Du musst mal bei uns schlafen“, fuhr Oma fort, wobei sich ihr ernster Gesichtsausdruck schon wieder aufheiterte. „Dann gehst du früh ins Bett. Um Mitternacht, wenn am Himmel die Sterne glitzern, legt die Schneekuh ihre Tarnfarben ab. Dann zeigt sie ihr weißes Fell und lässt es stärker leuchten als am Tag. Wenn du dann aus dem Fenster schaust, dann wirst auch du die Schneekuh entdecken.“

Die anderen Erwachsenen kamen in die Küche zurück. Onkel Josef hatte einen Bärenhunger. Er holte ein Landbrot und einen Räucherschinken aus dem Schrank und deckte den Tisch.
„Darf ich heute hier schlafen?“, fragte Jakob.

Mutter guckte überrascht. „Das wolltest du ja noch nie“, sagte sie. Offensichtlich hatte sie Sorge, dass es Jakob langweilig wurde. Tante Lise und Onkel Josef hatten noch keine Kinder, mit denen er spielen konnte.
„Falls er sich unter uns Erwachsenen einsam fühlt“, sagte Oma, „dann legt er sich einfach wie ein Kälbchen zu den Kühen.“ Sie freute sich darüber, dass Jakob über Nacht bleiben wollte. Mutter und Vater hatten nichts dagegen.
Onkel Josef, Tante Lise und Jakob begleiteten sie noch zum Auto. Und als die beiden wegfuhren, winkte Jakob ihnen hinterher.

Jakob ging ins Haus zurück. Oma saß noch immer in der Küche und schien schon darauf gewartet zu haben, dass Jakob sich wieder zu ihr setzte. „Habe ich dir eigentlich schon erzählt, wie die Schneekuh zu uns gekommen ist?“, fragte sie. Jakob schüt­telte den Kopf. „Schieß los, Oma“, sagte er und lehnte sich an ihre Schulter.

„So hundertprozentig genau weiß ich es selbst nicht“, begann sie, „aber ich habe eine Vermutung. Es war vor einigen Jahren, als ich im Garten war. Plötzlich verschwand die Sonne für einen Moment hinter einer Wolkenwand. Ich blickte in den Himmel und sah, wie sich ein heller Punkt auf die Erde zubewegte. Bevor ich darüber nachdenken konnte, verzog sich die Wolkendecke wieder, und die Sonne schien mir ins Gesicht. Den hellen Punkt verlor ich aus den Augen. Ich konnte mir die Sache damals nicht erklären und vergaß die ganze Geschichte. Erst einige Jahre später, nachdem mein Augenlicht schwach geworden war und ich die Schneekuh entdeckt hatte, wurde mir klar, dass sie der helle Punkt gewesen sein musste, den ich am Himmel bemerkt hatte. Ich glaube, die Schneekuh stammt von einem anderen Stern. Solche Kühe gibt es normalerweise nicht bei uns auf der Erde. Weil die Schneekuh nachts weißes, leuchtendes Fell hat, vermute ich, dass sie vom Polarstern gekommen ist. Vielleicht war sie dort die einzige Kuh, und sie fühlte sich sehr einsam. Auf dem Polarstern liegt das ganze Jahr über Schnee, und es herrscht immer Winter. Der Schneekuh ist es dort auf Dauer zu kalt geworden. Und bestimmt wollte sie gerne unter anderen Kühen sein. Und dann hat sie Anlauf genommen und ist einfach vom Polarstern heruntergesprungen. Tja, und so ist sie auf die Erde gefallen. Dass sie ausgerechnet bei uns hinterm Haus gelandet ist, war wohl Zufall, über den ich mich natürlich sehr freue, denn noch nie zuvor in meinem ganzen Leben habe ich so eine wunderbare Kuh gehabt.“

Oma hatte faszinierend erzählt, und Jakob wäre beinahe im Sitzen eingeschlummert. „Oh, jetzt wird es aber Zeit zum Schlafengehen“, sagte Oma. „Ich stell dir mei­nen Wecker. Um Mitternacht stehst du auf und schaust nach der Schneekuh.“

Onkel Josef hatte für Jakob ein Bett bezogen. Oma brachte ihm noch ihren Wecker und setzte sich auf die Bettkante. Etwas besorgt sah sie zu Jakob und meinte: „Hoffentlich wird die Schneekuh nicht krank.“

„Wie meinst du das?“, fragte Jakob.
„Ich weiß nicht“, sagte Oma, „sie ist in den letzten Tagen irgendwie verändert. Und sie hat einen furchtbar dicken Bauch, als ob sie sich überfressen hätte. Na ja, wir werden abwarten müs­sen, wie sich das entwickelt. Schlaf gut, mein Junge.“

Kaum hatte Jakob das Licht ausgemacht, schlief er ein. Um Mitternacht ertönte schrilles Geklingel. Jakob knip­ste die Nachttischlampe an, machte den Wecker aus und rieb sich die Augen. Er stand auf, ging in die Küche und schaute aus dem Fenster. Am Himmel leuchteten Tausende von Sternen. Auf der Wiese war es allerdings fast schwarz. Die zehn Kühe, die irgendwo sein mussten, waren wie vom Erdboden verschluckt. Nur eine einzige Kuh entdeckte Jakob. Sie hatte weißes, leuchtendes Fell und funkelnde Augen. Aufrecht stand sie da. Zufrieden wandte sie ihren Kopf herum und blickte nach un­ten.

„Oh, wie schön“, hörte Jakob sich sagen. Und jetzt wusste er, warum die Schneekuh noch am Nachmittag so dick gewesen war: Sie hatte ein Schneekälbchen im Bauch gehabt. Inzwischen war es zur Welt gekommen, und der Bauch war wie­der normal geworden.

Das Schneekälbchen leckte suchend am Hals seiner Mutter, als ob es Milch trinken wollte. Natürlich fand es dort kein Euter. Die Mutter half dem Kälbchen auf die Sprünge und stieß es mit dem Kopf an. Dabei wäre es beinahe hingefallen, konnte sich aber gerade noch auf den dünnen Beinen halten und stolperte nach hinten. Endlich fand es unter dem Bauch das Euter, und bald nuckelte es mit seinem kleinen Maul an einer Zitze.

Jakob freute sich über das Kälbchen. Aber er war müde und ging ins Schlafzimmer zurück. Kaum hatte er sich zugedeckt, fielen ihm die Augen zu.

Am anderen Morgen saß er mit Oma in der Küche. „Wenn du aus dem Fenster siehst, wie viele Kühe kannst du sehen?“, fragte er schmunzelnd.
Oma schaute hinaus. „Die zehn braun-weiß gefleckten Kühe müssen dort irgendwo sein, meine Schneekuh, die ich gut erkennen kann, hinzugenommen, macht elf.“

Jakob lachte. Vermutlich hatte Oma das Schneekälbchen übersehen. Es war noch sehr klein, viel kleiner als die große Schneekuh. „Stimmt nicht“, sagte er, „stimmt zumindest nicht ganz. Es sind zehn braun-weiß gefleckte Kühe, die ich gut erkennen kann. Außerdem ist da eine Schneekuh, die ich heute Nacht mit eigenen Augen gesehen habe. Und obendrein muss da noch ein kleines, süßes Schneekälbchen sein, das ich ebenfalls heute Nacht entdeckt habe. Da ein Kälbchen nur eine halbe Portion ist, kann man sagen: Es sind elfeinhalb Kühe auf der Wiese.“

„Ist das wahr?“, fragte Oma. Sie nahm ihre Brille ab und sah angestrengt aus dem Fenster. Ihre vielen Falten im Gesicht wurden dabei noch tiefer. Und dann ent­deckte auch sie das kleine, wunderbare Schneekälbchen.