
Short Cuts
Ich kann mich noch vage an eine Kurzgeschichte von Gabriel García Márquez erinnern, die ich vor ungefähr dreißig Jahren in einer Anthologie, die mir inzwischen abhandengekommen ist, gelesen habe. Die Geschichte handelt von einem Mann, der während einer Dürreperiode sehnsüchtig auf Regen wartet, um sich nass rasieren zu können. Einzelheiten habe ich vergessen, aber ich weiß noch, dass es am Ende auf wundersame Weise und wie aus Eimern schüttet.
Márquez fiel mir wieder ein, als ich in T.C. Boyles Erzählband Sind wir nicht Menschen las. „Was Wasser wert ist, weißt du (erst, wenn du keins mehr hast)“, so der etwas umständlich anmutende Titel einer Geschichte. Der Schauplatz liegt nicht wie bei Márquez in Südamerika, sondern an der Westküste der USA. Während die Dürre bei Márquez noch als Naturphänomen erscheint, ist sie bei Boyle als Folge der Klimaerwärmung zu sehen. Ein Ehepaar leidet zunehmend unter der jahrelang herrschenden Trockenheit. Eindringlich beschreibt Boyle, wie sich der Mann und die Frau zunehmend voneinander und auch von ihrem fast erwachsenen Sohn entfremden. Irgendwann geht es nur noch darum, nicht zu duschen, kein Wasser zu verbrauchen, alles andere bleibt auf der Strecke. Nach einem Kleinkrieg mit dreisten Nachbarn, die versuchen, dem Ehepaar im wahrsten Sinne des Wortes das letzte bisschen Wasser abzugraben, soll eine Schamanin engagiert werden und für Regen sorgen. Hier kommt Márquez ins Spiel, der zu Boyles Lieblingsautoren zählt. Die Figur der Regenfrau könnte aus der Welt des magischen Realismus à la Márquez entsprungen sein. Allerdings ahmt Boyle die Figur nicht einfach nach, sondern er entwickelt sie weiter vor dem Hintergrund moderner Maßstäbe. Die Frau verlangt nämlich für ihre Dienste ein nicht gerade bescheidenes Honorar in Form eines Mercedes 450 SEL. „Tiefseeblau mit amarettoroter Innenausstattung. Und 20-Zoll-Räder – nicht die serienmäßigen 19-Zoller.“
Alle neunzehn Geschichten des Bandes stammen aus der Zeit ab 2012. Sie greifen Themen auf, die uns auf den Nägeln brennen. Viele Protagonisten sind Ich-Erzähler, Männer im jüngeren und mittleren Alter, die den Leser durch ihren coolen und unprätentiösen Plauderton um den Finger wickeln. Aber Vorsicht, die Typen sind nicht immer so offen, unvoreingenommen und ehrlich, wie sie vorgeben. Manchmal wundert man sich, wie sie, ohne sich dessen recht bewusst zu sein, schwanzgesteuert durchs Leben stolpern. Da ist zum Beispiel ein Mann, der sich davor drückt, mit seiner Frau ein Labor aufzusuchen, um eine künstliche Befruchtung vorzunehmen und Merkmale wie Geschlecht, Augenfarbe und diverse Charaktereigenschaften des zukünftigen Kindes zu editieren. In diesem Fall wundert man sich übrigens kaum darüber, dass der Protagonist es vorzieht, seine einsame Nachbarin zu trösten, mit ihr anzubandeln und in traditioneller Weise ein Kind zu zeugen. Es handelt sich hier um die Titelgeschichte „Sind wir nicht Menschen?“, die in naher Zukunft spielt. Der Mensch als biologisches beziehungsweise humanes Wesen, beides wird hinterfragt, und der Titel passt durchaus als Motto für den gesamten Band.
Ausflüge in die Zukunft unternimmt der Autor ansonsten eher selten, die meisten Geschichten spielen im Hier und Jetzt. Furios kommen die Plots daher, zum Beispiel in dem Opener „The way you look tonight“. Ausgerechnet im Lehrerzimmer erhält der Protagonist von seinem Schwager ein Video geschickt mit dem lapidaren Hinweis: „Könnte dich interessieren.“ Was der Mann dann zu sehen bekommt, hat es in sich. Der Clip zeigt eine Sexszene seiner Frau mit einem früheren Liebhaber, der seine alte, heimlich gemachte Aufnahme offenbar erst jetzt und nach zig Jahren ins Netz gestellt hat. Obwohl der Vorfall schon viele Jahre zurückliegt, beginnt der Protagonist, an seiner Liebesbeziehung, die eben noch in bester Ordnung zu sein schien, zu zweifeln. Natürlich drängt sich die Frage auf: Wozu sind diese vielen Videos eigentlich gut, die wir, nachdem sie von irgendwem irgendwann ins Netz gestellt worden sind, zufällig aufschnappen und an unsere Freunde verschicken? In Sind wir nicht Menschen erweist sich Boyle einmal mehr als literarisch versierter Moralist, der den Finger in die Wunden des Lebens legt. Nicht der flockige, plauderhafte Stil Boyles, aber seine Fähigkeit, im begrenzten Rahmen einer Short Story Zusammenhänge von existentieller Tragweite auszubreiten, erinnert an Raymond Carver, den Boyle als Student persönlich kennen lernen durfte. Der bereits verstorbene Filmregisseur Robert Altmann hat 1993 einige Geschichten Carvers kongenial verfilmt und in „Short Cuts“ als abendfüllenden Spielfilm zusammengesetzt, der inzwischen zum Filmkanon gehört. Boyles Geschichten wären für eine Fortsetzung dieses Projekts bestens geeignet.
T.C. Boyle: Sind wir nicht Menschen. Stories.
397 Seiten. Carl Hanser Verlag.
München 2020. € 23,00.

111 Jazzalben
Links ein einführender, gut geschriebener Text, auf der gegenüberliegenden Seite eine farbige Abbildung des Covers mit diskografischen Angaben – nach diesem Muster stellen Roland Spiegel und Rainer Wittkamp ihre 111 besten Jazzalben vor.
Auf der ersten empfohlenen Platte hören wir King Oliver und seine Mitstreiter. Das drittletzte Album stammt ebenfalls von einem Kornettisten bzw. Trompeter, Into the Silence von Avishai Cohen. Zwischen dem New-Orleans-Stil der zwanziger Jahre und dem Modern Jazz der Gegenwart liegen knapp hundert Jahre, prall gefüllt mit unzähligen fantastischen Einspielungen.
Insofern sind die ausgewählten Beispiele nur Tropfen auf dem heißen Stein. Allein von einer Handvoll Musiker wie Coltrane, Davis, Evans, Monk und Mingus ließen sich genügend Meilensteine für eine umfangreiche Best-of-Sammlung finden. Aber die Autoren haben sich in den allermeisten Fällen auf maximal zwei Beispiele pro Musiker beschränkt, zugunsten eines breiteren Spektrums. Chronologisch angeordnet vermitteln die ausgewählten Titel einen spannenden Streifzug durch die Jazzgeschichte. Alle berücksichtigten Alben, so versichern die Autoren, sind derzeit als CD erhältlich, viele auch als LP. Einsteiger werden unterstützt, sich an die unterschiedlichen Spielarten des Jazz heranzutasten und eigene Vorlieben aufzuspüren. Auch wer sich bislang für einen alten Jazzhasen hielt, stößt aber auf Interpreten und Platten, die er bislang übersehen hat. So gehören Blues-ette von Curtis Fuller, At the Village Gate von Herbie Mann oder Forest Flower von Charles Lloyd zu meinen großartigen Neuentdeckungen.
Jazz aus den zwanziger bis vierziger Jahren wird durch Kompilationen repräsentiert. Die Langspielplatte und damit das Musikalbum im eigentlichen Sinne kommt erst ab 1948 auf den Markt. Ein deutliches Übergewicht in dem Band haben die Aufnahmen der fünfziger bis siebziger Jahre, in denen sich Stile wie Cool, Hard Bop, Free und Fusion entwickeln und wohl so etwas wie die Blütezeit des modernen Jazz markieren. Label wie Blue Note, Riverside, Prestige, Verve, Atlantik, Impulse und später ECM sind Experimenten nicht abgeneigt und werden berühmt. Es macht Spaß, in dem Band zu blättern, allein um die oft grandios gestalteten Plattencover zu betrachten.
Die Autoren orientieren sich weitgehend am Kanon der Jazz-Geschichte. Stilprägende Alben dürfen nicht fehlen. So gibt es hinsichtlich der Auswahl viele Überschneidungen mit den „100 besten Jazzalben“ der Musikzeitschrift Rolling Stone oder mit Ralf Dombrowskis 125 LPs umfassender Basis-Diskothek Jazz.
Nicht in allen Fällen teile ich den Geschmack von Spiegel und Wittkamp. Warum haben sie von Charlie Parker ausgerechnet die süßlichen Aufnahmen mit Streichern ausgewählt? Von Pat Metheny (American Garage) und Keith Jarrett (The Köln Concert) kenne ich bessere Platten. Gewundert hat mich zudem, dass der Mundharmonika-Spieler Toots Thielemans – eher ein Sonderfall im Jazz – in der Sammlung Berücksichtigung gefunden hat, während Jan Garbarek, einer der einflussreichsten Saxofonisten der Nach-Coltrane-Ära, fehlt. Insofern bildet Ralf Dombrowskis Basisdiskothek, die 2018 in einer neuen Auflage (als sparsames Reclam-Sachbuch ohne Coverabbildungen) erschienen ist, eine gute Ergänzung. Hier findet man Garbarek und andere Alben, die in der Zusammenstellung von Spiegel und Wittkamp fehlen und umgekehrt. Ein kenntnisreiches und zudem sehr schön gestaltetes Buch bleibt 111 Jazz-Alben natürlich trotzdem, nicht zuletzt, weil es dazu anregt, tolle Musik zu hören und an seiner persönlichen Best-of-Liste zu feilen.
Roland Spiegel, Rainer Wittkamp: 111 Jazz-Alben, die man gehört haben muss.
239 Seiten. Emons. Köln 2019. € 16,95.
Ralf Dombrowski: Basis-Diskothek Jazz. 5. Auflage. 270 Seiten.
Reclam. Ditzingen 2018. € 7,80.

Das Münsteraner Theaitetos Trio
vertont Ror Wolf
Bereits 1987 erschien Ror Wolfs vielleicht schönster Prosaband Mehrere Männer. Es handelt sich um eine Sammlung knapper Geschichten, in denen von gewöhnlichen wie grotesken Männererlebnissen die Rede ist. „Kürzlich warf ein Bergsteiger, ein Mann aus Goch, eine abgenagte Kalbshaxe in eine Schlucht“, heißt es in einem der titellosen Texte. Die Worte „Bergsteiger“, „Goch“ oder „Kalbshaxe“ suggerieren Idylle, die „Schlucht“ deutet demgegenüber einen bedrohlichen Plot an, der schließlich in eine ironische Belehrung mündet: „Am Ende stehen Worte, aus denen die Geringschätzung des menschlichen Lebens hervorleuchtet.“
Wolfs Protagonisten könnten Abenteuer- und Groschenromanen, Zeitungsmeldungen, Werbeanzeigen, Jakob van Hoddis‘ Gedicht „Weltende“ oder dem banalen Alltag entsprungen sein.
Ob Bergsteiger oder Weltumsegler, Tabakhändler oder Posaunist, Schwimmer oder einfach nur jemand, der vom Stuhl fällt: Wolfs Figuren tauchen irgendwo auf, verstricken sich in banale wie unheilschwangere Szenen, um in Windeseile wieder von der Bildfläche zu verschwinden. In den skurrilen Geschichten, oft nur eine halbe Seite oder einige Zeilen kurz, jongliert Wolf mit den Regeln traditionellen Geschichtenerzählens und treibt mit den Erwartungen des Lesers seine Späße. Die Sprache klingt rhythmisch und klangvoll. Kein Wunder, dass Musiker sich davon angesprochen fühlen.
So erging es jedenfalls dem Münsteraner Theaitetos Trio, das sich 1987 gründete – zufällig dem Erscheinungsjahr von Mehrere Männer. Einer der Musiker hatte irgendwann damit angefangen, seinen Mitstreitern unkommentiert und absenderlos Postkarten mit Zitaten aus Mehrere Männer zu schicken. Als die anderen nach und nach herausfanden, von wem die sonderbaren Mitteilungen stammten, versendeten sie nun ihrerseits Ror-Wolf-Texte an die Kollegen. Seitdem verwendet das Trio in diversen Programmen neben dadaistischen Vorlagen immer wieder gern Geschichten von Ror Wolf. Und legt nun, pünktlich zum 85. Geburtstag des Autors, seine erste LP vor, mit Vertonungen zu Mehrere Männer.
Das „Trio“ ist mit Helmut Buntjer, Johannes Dolezich, Udo Herbst und Bernd Kortenkamp eigentlich ein Quartett und wurde für das LP-Projekt um den kongenialen Sprecher Thomas Schulz erweitert. Dreizehn Männergeschichten setzt die Band mit Anleihen aus unterschiedlichsten Musikrichtungen und Stilen um. Der Opener – mit 42 Sekunden die kürzeste Einspielung – „Ein gähnender Mann“ kommt locker swingend daher. Demgegenüber gehört das 8-minütige „Ein reich gewordener Tabakhändler“ zu den längeren Titeln. Eingeleitet durch eine Klangcollage lehnt es sich an die Dreigroschenoper von Brecht und Weill an und parodiert mit kunstvoll grölendem Gesang eine Moritat. Eindrucksvoll gelingt es dem Theaitetos Trio, dichte atmosphärische Töne und Geräusche, songartige Melodien, Gesang und Textrezitation aufeinander abzustimmen. Die Kompositionen von Udo Herbst und Johannes Dolezich lassen genügend Freiraum für Improvisationen, die Musiker verwenden Elemente aus Jazz und Blues, manchmal auch Rock und Folk. Die Geschichte „Ein Mann nahm ein Lama“ wird im Kontrast zur barbarischen Handlung mit volkstümlicher Alpenmusik unterlegt – darauf muss man erst einmal kommen! An Einfallsreichtum mangelt es den Musikern nicht, die neben Posaune und dem flügelhornähnlichen Euphonium, Gitarre und Mundharmonika unkonventionelle Instrumente wie Gebläseorgel, Toypiano, Bügelbrett und den so genannten „Wachtelrealisator“, einen mit Schrottteilen behängten Kleiderständer, spielen. Außer dreizehn Protagonisten aus Mehrere Männer macht der Hörer Bekanntschaft mit den Herren Pilzer und Pelzer, zwei alte Bekannte aus dem Ror-Wolf-Universum. Die Episode „80 Runden im Schnee“ schildert einen vermeintlichen Boxkampf, in deren Verlauf Pilzer und Pelzer zusehends im Schnee versinken. Diese Geschichte hat die Band als 13-minütiges Hörspiel inszeniert. Eindrucksvoll versetzt sich der Sprecher in die abstruse Welt der Protagonisten, während die Musiker sich – auch wenn es zwischendurch mal lauter wird – als Meister der Zurückhaltung und der leisen Töne erweisen. Wie Ror Wolf in seinen konzentrierten Geschichten gelingt es dem Theaitetos Trio, Überflüssiges zu vermeiden. Nach den Aufnahmen im Studio sind nur einige Sounds nachträglich hinzugefügt worden. So gesehen sind die Stücke quasi live im Studio eingespielt und eingesprochen worden, technisch sorgfältig und stimmig umgesetzt vom Toningenieur Bernward Müller.
Theaitetos Trio: Ror Wolf – Mehrere Männer. Eine Produktion von Theaitetos Trio & Soundatelier Münster.Münster 2017. € 20,00.
Als LP und MP3-Download zu beziehen über www.helmutbuntjer.de sowie über www.theaitetostrio.bandcamp.com
Ror Wolf: Mehrere Männer.
In: Die Gefährlichkeit der großen Ebene. Prosa III.
Schöffling und Co. Frankfurt a.M. 2012. 370 Seiten. € 39,00.