Aus dem Buch Die Frau mit der Kamera, das im Frühjahr 2021 erscheint
Bild: Claudia Seibert

Neukonfiguration
Vor einigen Jahren, als ich Frederik Turm hieß, nahm mein bis dahin gradliniges Leben eine Wende. Ich war Anfang dreißig und arbeitete im Management eines Möbelherstellers. Eines Tages erhielt ich auf meinem Smartphone eine E-Mail, die eigentlich nicht für mich bestimmt war. Adressiert hatte jemand diese Nachricht an einen gewissen Daniel Hirschmann – mir völlig fremd.
Seine Adresse »daniel@hirschmann.de« hätte einen ganz anderen Provider erreichen müssen. Warum die Mails für ihn in meinem Smartphone landeten, habe ich nie herausgefunden. Und ehrlich gesagt, irgendwann wollte ich es gar nicht mehr wissen.
Die Nachricht stammte von einer Franziska Buchhaus, die ich ebenfalls nicht kannte. Sie grüßte Daniel herzlich und lud ihn zu einer Party ein. Ich las den zwar kurzen, aber freundlich formulierten Text einige Male und versuchte mir ein Bild von der Absenderin zu machen. Da ich an dem Termin nichts vorhatte, folgte ich einem diffusen Impuls, änderte in den Einstellungen des Smartphones meine Absenderadresse in daniel@hirschmann.de und drückte den Antwort-Button.
Ich kann heute wirklich nicht mehr genau sagen, warum ich mich auf die Sache einließ. Vielleicht nutzte ich die Gelegenheit, um mal wieder rauszukommen und den Abend nicht mit meiner damaligen Lebensgefährtin verbringen zu müssen. Unsere Beziehung befand sich gerade in einer Talfahrt, und wir gingen uns eher aus dem Weg.
Ich schrieb: »Hoffe, du bist wohlauf, Franziska. Über die Einladung freue ich mich. Komme sehr gern. Soll ich etwas mitbringen? Liebe Grüße, Daniel.« Bereits wenige Minuten später erhielt ich eine Reaktion: »Lieber Daniel, das ist typisch, dass du deine Unterstützung anbietest. Aber du bist eingeladen und brauchst dich nicht zu bemühen, denn es ist alles da. Ich freue mich auf dich. Liebe Grüße, Franziska.«
Vielleicht waren Daniel und ich gar nicht so verschieden, ging es mir durch den Kopf. Ich begann mich näher mit ihm zu befassen. Wer war dieser hilfsbereite und offenbar freundliche Mensch, den Franziska mochte?
Im Netz und bei Facebook konnte ich nichts herausfinden, aber über die Bildersuche stieß ich immerhin auf ein Foto. Falls es wirklich zu ihm gehörte und einigermaßen aktuell war, hatte er ungefähr mein Alter. Auch sonst schien er mir zu ähneln: dunkles, leicht gewelltes Haar, schmales Gesicht, große Nase, sympathische Ausstrahlung. Merkmale, die auch auf mich zutrafen. Je länger ich das Foto betrachtete, desto stärker fielen mir unsere Gemeinsamkeiten ins Auge.
Der Abend rückte näher, meine Anspannung stieg. Ich überlegte mir, was ich anziehen sollte, und versuchte mir vorzustellen, welchen Stil Franziska und ihr Bekanntenkreis favorisierten. Am Ende entschied ich mich für ein lässiges, aber gepflegtes Outfit. Jeans mit weißem Hemd und grauem Sakko, dazu braune Wildlederschuhe. Ich war mir sicher: Damit konnte ich kaum etwas falsch machen, es passte zu jedem Anlass.
Franziskas Mail-Signatur enthielt ihre Postanschrift. Die Wohnung lag nur ein paar Straßen entfernt. Bestimmt war sie mir schon mal über den Weg gelaufen. Aufgeregt drückte ich den Klingelknopf. Ich hatte keine Ahnung, was mich erwartete.
»Hi, Daniel, schön, dass du da bist«, empfing mich eine Frau mit großen braunen Augen und langen Haaren, die zu einem Zopf zusammengebunden waren. Tolle Figur. Trotz ihrer etwas strengen Gesichtszüge lächelte sie einladend. Sie musterte mich kurz, schien für den Bruchteil einer Sekunde daran zu zweifeln, ob ich Daniel war.
»Komm rein, mein Lieber, wie geht es dir?«, fragte Franziska schließlich und nahm mich in den Arm. Ihre anfängliche Unsicherheit war verflogen, und sie hatte akzeptiert, dass sie Daniel gegenüberstand. Eine alte Binsenweisheit, derzufolge Menschen vor allem das sehen und hören, was ihren Erwartungen entspricht, sollte sich an jenem Abend noch häufiger bewahrheiten.
Um mich nicht in Widersprüche zu verstricken, hielt ich mich zunächst eisern an die Regeln eines gepflegten Small Talks. »Ich bin okay, abgesehen davon, dass ich letzte Woche eine Grippe hatte und mich noch nicht wieder hundertprozentig fit fühle«, erklärte ich. Es war gelogen, ermöglichte mir aber zu reden, ohne in eine Falle oder ein Fettnäpfchen zu treten.
»Hi, Daniel«, wurde ich von einigen Gästen aufmerksam begrüßt. Andere registrierten mein Erscheinen mit größerer Zurückhaltung. Ihr wohlwollendes Nicken deutete ich als Hinweis, dass sie über Daniel so gut wie nichts wussten. Um Komplikationen zu vermeiden, versuchte ich mir zu merken, wer zu meinem näheren Freundeskreis gehörte und wer nicht.
Franziska stellte mir ihren Lebensgefährten vor, einen sportlichen Typ ohne jeden Bauchansatz, jünger als ich. Leider musste ich akzeptieren, dass die schöne Frau, die ich keineswegs von der Bettkante gestoßen hätte, schon vergeben war.
Die meisten ihrer Gäste standen in der Küche, aßen und tranken. Auf dem Tisch war ein Buffet mit diversen Salaten und Vorspeisen angerichtet. Ich schaufelte mir einiges davon auf den Teller und begann mich mit meinen vermeintlichen Bekannten über das Wetter, die vorzüglichen Speisen, den süffigen Rotwein, über Gott und die Welt auszutauschen, Themen, über die man bei solchen Gelegenheiten eben redet. Um mich nicht zu verplappern, überließ ich meinen Konversationspartnern die Gesprächsführung.
Im Laufe des Abends erhielt ich diverse Anhaltspunkte zu Daniels Biografie, die ich zu einem Persönlichkeitsprofil zusammensetzen konnte. Er war Single, arbeitete als Produktdesigner bei einem Brillenhersteller, hörte gern Electro und Soul, liebte Spaziergänge, ging häufig ins Kino und interessierte sich außerdem für Fußball. Da ich als Schüler in meiner Freizeit viel gezeichnet hatte und inzwischen in der Möbelbranche mein Geld verdiente, in der ästhetische Fragen ebenfalls wichtig waren, konnte ich mich in die Welt eines Menschen hineinversetzen, der Brillengestelle entwarf. Mit seinem Musikgeschmack tat ich mich als eingefleischter Grunge-Fan etwas schwerer. Dennoch stellte es mich nicht vor allzu große Probleme, aus Daniels Perspektive niveauvoll klingendes Geschwafel und Banalitäten abzusondern.
Ehrlich gesagt, ich redete mich zum Teil in Rage und fabrizierte dabei ziemlichen Unsinn. Die Anwesenden hatten längst einen gewissen Alkoholpegel erreicht, und meine stümperhaften Äußerungen fielen gar nicht weiter auf. Irgendwann fühlte ich mich in der Runde fast wohl. Ungeachtet dessen spürte ich, wie mich einige meiner vermeintlichen Bekannten oder Freunde hin und wieder eigentümlich fixierten.
Auch eine Rothaarige, die später erschienen war, hatte mir öfter Blicke zugeworfen. An ihren kleinen Ohren baumelten Creolen mit winzigen, diamantähnlichen Steinen, die unter ihrem halblangen Haar hervorblitzten. Smaragdgrüne Augen, vermutlich das Ergebnis gefärbter Kontaktlinsen, hübsche Nase, aufgeworfene Lippen, alles an ihr war bezaubernd. Sie war um einiges jünger als ich, der schon im Begriff war, langsam aber sicher auf die Seite der Abgehängten zu wechseln. Karina hieß sie, wie ich in der Unterhaltung erfuhr. Den Rest des Abends wich ich nicht mehr von ihrer Seite, und wir verabredeten uns.
Am folgenden Sonntag ging ich zu dem Mietshaus, in dem Daniel wohnte, und klingelte zunächst bei ihm. Er war nicht da. Ich versuchte mein Glück bei den Nachbarn und erklärte ihnen, dass ich mich versehentlich ausgeschlossen hatte. Ich ließ mir die Nummer des Hausverwalters geben und rief ihn an.
Meist rümpften Leute, wenn sie mich das erste Mal in Daniels Rolle sahen, kurz die Nase. Doch spätestens nach wenigen Sekunden hatten sie offenbar entschieden, dass ich ihrem abgespeicherten Bild von Daniel zumindest sehr nahe kam.
Bald saß ich in seinen vier Wänden und fing an, mich darin einzunisten. Was verblüffend war: Ich fand Haustür-, Auto- und Büroschlüssel, einen Chip für die Tiefgarage, EC-Karte, Personalausweis und Führerschein. Ordentlich aufgereiht lagen die Sachen in einer Schublade, als ob sie dort für mich deponiert worden waren.
Ich setzte mich an Daniels Schreibtisch, durchsuchte seine Unterlagen, fand Arbeits- und Versicherungsverträge, Steueridentifikationsnummer, Krankenkassenbelege und Kontoauszüge. Auch seine Online-Passwörter hatte Daniel sorgfältig aufgelistet. Im Netz öffneten sie mir Tür und Tor. Ohne Mühe erhielt ich Zugang zu seinen gesamten Datenplattformen, Onlinebanking inklusive.
Als die neue Woche begann, ging ich nicht wie gewohnt zu meiner Arbeitsstelle, sondern suchte Daniels Firma auf. Im Job schien die menschliche Wahrnehmung noch flüchtiger abzulaufen als in privaten Zusammenhängen. »Fein, dass du wieder gesund bist«, empfing mich ein Kollege, ohne im Geringsten an meiner Identität zu zweifeln. Als würde er schon Jahre mit mir zusammenarbeiten, fügte er hinzu: »Auf dich warten eine Menge Aufträge, Daniel.«
Mir fiel die Grippe ein, von der ich Franziska erzählt hatte. Das mosaikartige Bild Daniels, das aus aufgeschnappten Beobachtungen, recherchierten Fakten und erfundenen Elementen zusammengesetzt war, funktionierte erstaunlich gut.
Jemand deutete unaufdringlich auf Daniels Platz, als ob er meine Desorientierung bemerkt hätte, und ich konnte zielsicher meinen Schreibtisch ansteuern. Um mir einen Überblick zu verschaffen, womit Daniel beschäftigt war, checkte ich seine Mails der letzten Monate und durchforstete seine aktuellen Projektdateien. Erfreulicherweise schien der echte Daniel wie vom Erdboden verschluckt, so dass er mir nicht in die Parade fuhr.
Meine Kollegen waren nett. Niemand begegnete mir mit Misstrauen und stellte meine Rolle ernsthaft in Frage. Ich konnte mich unverzüglich in Daniels Materie einarbeiten. Schöne Brillen zu entwickeln, stellte mich vor keine unlösbaren Aufgaben, obwohl ich mich in meiner Vergangenheit nur als Gelegenheitsgrafiker versucht hatte. Mein neuer Beruf machte mir Spaß und erfüllte mich.
Bei meiner ehemaligen Lebensgefährtin ließ ich mich nie mehr blicken. Dagegen traf ich mich immer häufiger mit Karina, zu der ich nach und nach eine feste Beziehung aufbaute. Um auf Nummer sicher zu gehen und nicht doch noch erkannt zu werden, änderte ich meinen Stil und ließ mir einen Bart stehen, was in Mode gekommen war und von niemandem hinterfragt wurde.
Tja, so bin ich in die Haut von Daniel Hirschmann geschlüpft. Mein neues Leben ist nicht perfekt, das muss ich zugeben, aber es gefällt mir besser als das vorherige. Durch den Rollenwechsel habe ich gelernt, dass Bekannte und Kollegen, Freunde und Lebensgefährten, Verwandte und Nachbarn leicht ersetzbar und ohne Weiteres austauschbar sind.
Meine Exfreundin habe ich übrigens nur einmal wiedergesehen. Wir sind uns auf der Straße begegnet, sie hat mich aber nicht erkannt. Neben ihr lief ein Mann, der mich stark an meine Vergangenheit erinnerte. Er schaute mir im Vorbeigehen direkt in die Augen. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, schien ich ihm nicht völlig fremd zu sein. Plötzlich kam es mir so vor, als hätten wir eine stille Vereinbarung getroffen.
Es würde mich nicht wundern, wenn er sich, wie ich, einen neuen Namen zugelegt hat. Womöglich heißt er nun Frederik Turm.