Anfang der achtziger Jahre gaben Joachim Feldmann, Michael Kofort und ich als Studenten und WG-Genossen die Zeitschrift Am Erker heraus. Wäre ich der Undergrounddichter Charles Bukowski, würden meine Erinnerungen vermutlich so beginnen: Mann, ihr alten Säcke, wo sind sie hin, all die verfickten Jahre.
Ich bin aber nicht Charles Bukowski und fange lieber anders an, zum Beispiel so: Gern erinnere ich mich an die Zeiten, als wir noch junge Männer waren, voller Tatendrang, und am Dahlweg 64 in Münster wohnten. Den größeren Teil des Lebens hatten wir da noch vor uns.

Über meinem Schreibtisch hängt ein Foto aus dieser Zeit. Es zeigt drei lebenshungrige und WG-erprobte Kerle, voll im Saft: Herr Feldmann, Herr Kofort und Herr Gier. Es mag für Außenstehende befremdlich klingen, aber wir redeten uns gern mit Nachnamen und „Herr“ an, obwohl wir alles andere als feine Pinkel waren. Ich vermute, es war eine Marotte, mit der wir das Establishment verhöhnen wollten.
Das Wort „fein“ ging uns übrigens oft und gern über die Lippen. Einer von uns hatte etwas „Feines“ gekocht, wir trugen „feine“ Jacken – das waren alte schwarze Jacketts vom Flohmarkt oder woher auch immer –, man trank in seiner „feinen“ Jacke in der „feinen“ WG-Küche sitzend ein „feines“ Felskrone-Bier und hatte sich eine „feine“ neue Platte gekauft.
Stundenlang hockten wir zusammen und hörten alte und neue LPs, für die wir unser letztes Geld ausgegeben hatten. Tom Waits, Bob Dylan, Thelonious Monk, Art Blakey, Joe Jackson, John Coltrane, Bill Evans, Keith Jarrett, Jan Garbarek, Talking Heads, Van Morrison und so weiter und so fort. Wie oft haben wir die dicke Prestige-Box mit den zwölf Alben von Miles Davis wohl rauf und runter genudelt? Bestimmt haben wir sie an manchen Abenden komplett durchgehört, ungefähr acht Stunden lang. Nebenbei führten wir Gespräche, auch heftige Diskussionen, die uns um den wohlverdienten Schlaf bringen konnten.

An eine dieser Kontroversen kann ich mich besonders gut erinnern. Es war spät geworden, und wir drei saßen noch zusammen. Es ging ungefähr um folgende Frage: Ist jemand, der einen Mode-Laden betritt, ein schickes Jackett kauft, am nächsten Morgen früh um sechs aufsteht, sich das neue Designerstück überzieht und frohlockend aufs Fahrrad schwingt, um zu einer bürgerlichen Firma zu rauschen und dort seinen Semesterferienjob im Büro des Vaters anzutreten, ist jemand, der so etwas tut und vor allem in so einem Aufzug, nicht gerade auf dem besten Wege, ein kleinkarierter spießbürgerlicher Scheißer zu werden? Darüber konnten wir ernsthaft stundenlang philosophieren. Im Nachhinein frage ich mich, ob manche unserer ausschweifenden Diskussionen ohne die eine oder andere Flasche Felskrone nicht ganz anders verlaufen und vor allem viel früher zu Ende gewesen wären.
Neben Literatur und Musik drehte sich unser gemeinsames Leben auch um existenzielle Fragen. Wer spült wann das Geschirr oder putzt das Bad? An solchen Problemen zerbrechen viele WGs, und manchmal waren auch wir nah dran zu scheitern. Trotz mancher Widrigkeiten und nicht zuletzt mit Hilfe solcher Geschichten „aus dem fiktiven Alltag“, für die wir eine Schwäche hatten, überstand die WG alle Höhen und Tiefen und sicherte damit auch das Projekt Am Erker. Die Zeitschrift entwickelte sich zum wichtigsten Lebensinhalt des Herausgebertrios und Wohnkollektivs, kurz: Am Erker wurde zum Nabel der Welt.
Tage- und nächtelang wurden Geschichten gelesen, ausgesucht und gesetzt, damals noch mit Schreibmaschine und Tipp-Ex. Die Texte wurden in Handarbeit mit Schere, Illustrationen aus der Peking Rundschau und anderem skurrilen Bildmaterial und mit Fixkleber in ein experimentelles Layout gebracht. Hierbei war ein Leuchttisch hilfreich, den Koforts Vater für uns gebaut hatte. Man musste das Gerät mit den Neonröhren, die in dem Holzkasten und unter den Glasscheiben nach wenigen Minuten sehr heiß wurden, häufig ausschalten und eine Layoutpause einlegen, um zu verhindern, dass der Kleber schmolz oder die aufliegenden Papierbögen in Flammen aufgingen.

Wenn die Ausgabe gedruckt bzw. fotokopiert vorlag, fing die eigentliche Arbeit erst an, und die drei Zeitschriftenbarone mussten durch die Kneipen Münsters ziehen und Am Erker im Handverkauf unter die Leute bringen. Eine der schwierigsten Aufgaben bestand darin, unter den zahlreichen Kneipenbesuchern die wenigen echten Literaturliebhaber herauszupicken, was nicht immer gelang. „Stehen da denn auch die Fußballergebnisse drin?“, bekam man nicht selten zu hören. Oder: „Habt ihr wenigstens nackte Weiber in eurem Magazin?“
Die Verkaufstouren liefen in der Regel so schlecht, dass man froh sein konnte, drei oder vier Exemplare pro Abend losgeworden zu sein. Nicht genug, dass die Zeitschriftenverkäufer über die geringe Resonanz verzweifelten, manchmal waren sie regelrecht schockiert über so viel kulturelle Ignoranz in der Welt.

Zum Teil fanden solche traumatischen Erlebnisse ihren Niederschlag in WG-Filmprojekten. In den achtziger Jahren war es möglich geworden, mit relativ preiswertem Equipment Videos zu produzieren, eine Entwicklung, die auch im Dahlweg 64 Einzug hielt und kreativ genutzt wurde. So entstand der etwa 30-minütige Kurzspielfilm „Erfolg“ mit Michael Kofort und mir selbst in den Hauptrollen. Stilistisch versuchten wir, an die filmischen Experimente des Autorenfilmers Herbert Achternbusch, der zu unseren Vorbildern gehörte, anzuknüpfen.
Die filmischen Experimente markieren den Beginn meiner Arbeit als Videofilmer und Medienpädagoge. Obwohl ich einen Abschluss als Diplom-Sozialarbeiter in der Tasche hatte, entschied ich mich für einen frei- und mehrberuflichen Weg, der nur noch am Rande mit Sozialarbeit zu tun hatte.
Verschiedene Umstände führten dazu, dass Feldmann Ende der achtziger Jahre als Erster die legendäre WG verließ. Ich räumte Anfang der neunziger Jahre das Feld, um mit meiner Lebensgefährtin Claudia Seibert zusammenzuziehen.
Diverse Mitarbeiter stießen für einige Ausgaben zur Redaktion und verließen sie wieder. Manche sind allerdings bis heute aktiv der Zeitschrift verbunden. Neben Am Erker-Mitbegründer Joachim Feldmann, mittlerweile in Recklinghausen ansässig, gehören Redakteure aus Krefeld, München, Berlin, Marburg und Münster zur Redaktion. Die neuen Mitarbeiter trugen zur Professionalisierung der Zeitschrift bei. Michael Kofort als Geschäftsführer und ich als Layouter unterstützen die Herausgeber. Seit 2006 erscheint Am Erker nicht mehr im Eigendruck, sondern im Münsterschen Daedalus Verlag von Jo Herbst.
Die Zeit der Ur-Erker-Redaktion liegt zwar schon gut vierzig Jahre zurück, ist aber nach wie vor ein wichtiger Eckpfeiler für unsere Freundschaft. Wenn man sich fragt, was man zustande gebracht hat in seinem Leben, liegt die Antwort in unserem Fall auf der Hand: Neben vielen anderen Dingen vor allem die Literaturzeitschrift Am Erker.